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Rezension: Spenderkinder. Künstliche Befruchtung, Samenspende, Leihmutterschaft und die Folgen. Was Kinder fragen werden und was Eltern wissen sollten.

von Wolfgang Oelsner und Gerd Lehmkuhl, erschienen bei Fischer & Gann 2015

Es ist immer erfreulich, wenn sich ein Buch einem Thema annimmt, das in Deutschland und im deutschsprachigen Ausland einem mehr oder minder großem Tabu unterliegt. Das ist zum Beispiel die Familienbildung mit Samenspende, auch wenn darüber in jüngster Zeit viel in den Medien berichtet wird. Paare und Frauen, die über diesen Weg nachdenken, sind in der Regel immer noch zurückhaltend, wenn es darum geht, im sozialen Umfeld mitzuteilen, dass sie über eine Samenspende nachdenken. Viele gehen davon aus, dass ihre Entscheidung kritisiert oder sogar abgelehnt wird. Zwar stehen viele Wunscheltern der Aufklärung ihrer Kinder theoretisch positiv gegenüber, ihre Befürchtungen führen jedoch dazu, dass viele letztendlich die Zeugung ihrem Kind und Umfeld gegenüber verschweigen. Sie haben Angst vor möglichen Reaktionen des Kindes, befürchten, dass es sich vom sozialen Elternteil abwenden könnte und wissen nicht, wie sie die Aufklärung angehen können – vor allem aber haben sie Angst, dass sie selbst und ihr Kind diskriminiert werden könnte. Als Familientherapeutin weiß ich, dass es in der Beratung wichtig ist, Zeit und einen geschützten Rahmen zur Verfügung zu stellen, in der diese Ängste besprochen und bearbeitet werden können. Zudem ist es zentrales Anliegen der Beratung, Wunscheltern die Bedürfnisse so gezeugter Kinder nahezubringen, so dass sie vorbereitet sind und nicht nur um die Bedeutung der frühzeitigen Aufklärung wissen, sondern auch erfahren, wie sie mit der Zeugung altersgerecht umgehen können (Thorn, P. und T. Wischmann (2008). „Leitlinien für die psychosoziale Beratung bei Gametenspende.“ J. Reproduktionsmed. Endokrinol. 3: 147-152.)

Dieser Hintergrund war die „Brille“, durch die ich das Buch „Spenderkinder“ gelesen habe. Und es verspricht durchaus einige hilfreiche Aspekte für (angehende) Eltern mit Kindern durch Samenspende zu bieten. Die Autoren sprechen immer wieder von einer kindzentrierten Haltung und von ihrem Bemühen, den medizinischen Methoden wertfrei zu begegnen und mit Hilfe des Buches zu einem gelingen Dialog zwischen Eltern und Kindern beizutragen – im Prinzip Haltungen, denen sich jeder, auch ich, intuitiv anschließen kann.

Für mich überwogen beim Lesen jedoch zahlreiche Ungereimtheiten, mir fiel das Nicht-Wissen der Autoren über einfache reproduktionsmedizinische Zusammenhänge sowie juristische Regelungen auf, und ich stieß auf zahlreiche Stellen, die wissenschaftlich nicht haltbar sind. Auch beziehen sich die Autoren auf eine bestimmte Generation von Kindern nach Samenspende, nämlich diejenigen, die gezeugt wurden, als es üblich (aber nicht unbedingt erlaubt) war, Eltern Geheimhaltung zu empfehlen und die Behandlungsdokumente nach 10 Jahren zu vernichten. Einige in dieser Generation haben dennoch von ihrer Zeugung mittels Samenspende erfahren, und sie sind entsprechend wütend, frustriert und ohnmächtig. Die jetzige Generation von Kindern, von denen einige, wenn nicht sogar viele frühzeitig (im Kindergartenalter) aufgeklärt werden, kommt darin nicht zur Sprache. Darüber hinaus gab es trotz gegenteiliger Ankündigung zahlreiche Wertungen, die auf (Wunsch)Eltern sicherlich abschreckend wirken können, und vielleicht ist das auch beabsichtigt.

Ungereimtheiten

Es ist den Autoren nicht gelungen, bei ihrem Thema zu bleiben. Der Titel „Spenderkinder“ lässt erwarten, dass es sich um ein Buch von Kindern/Menschen nach Samenspende handelt. In der Einleitung wird jedoch vieles durcheinander geworfen: Jede 50. Geburt soll auf „künstliche Zeugung“ zurückzuführen sein, somit ca. 14.000 Kinder in Deutschland pro Jahr. Die Autoren definieren jedoch nicht, was sie unter künstlicher Zeugung verstehen. Lt. dem Deutschen IVF Register wurden im Jahr 2014 9.231 Kinder nach IVF und ICSI geboren (http://www.deutsches-ivf-register.de/perch/resources/downloads/dir-2014-d-1.pdf), hinzu kommen, je nach Zählweise der Autoren, ggf. noch diejenigen Kinder, die durch Inseminationen (in Kinderwunschzentren oder bei niedergelassenen Gynäkologen) gezeugt wurden. Diese Zahl wird in Deutschland nicht erfasst, und es gibt noch nicht einmal geschätzte Zahlen dafür. Ebenso wenig liegt eine eindeutige Zahl der Lebendgeburten nach Samenspende vor. Der Arbeitskreis donogene Insemination geht von ca. 1.000 bis 1.200 Kinder jährlich aus. Hinzu kommen jedoch die Geburten nach einer Insemination im privaten System und im Ausland, und auch hierfür gibt es keine Schätzungen. Auf Seite 12 werden weitere geschätzte Zahlen genannt (ca. 500 Kinder nach Leihmutterschaft, 1.000 bis 3.000 Kinder nach Eizellspende), ohne dass hierfür Quellen genannt werden. Im Klappentext wird ebenfalls von jeder 50. Geburt geschrieben, die auf Methoden der Fortpflanzungsmedizin zurückzuführen ist. Im nächsten Absatz werden die 10 Spenderkinder erwähnt, die interviewt wurden, so dass man vermuten könnte, dass diese 10 Kinder bzw. Erwachsene stellvertretend für jedes 50. Kind steht, das in Deutschland nach Reproduktionsmedizin gezeugt wurde. Die Zahl der Kinder nach Samenspende ist jedoch deutlich niedriger. Hier wurden die Thematik der Samenspende in einem Kontext dargestellt, der sehr viel höhere Zahlen dieser Personengruppe vermuten lässt als dies tatsächlich der Fall ist. So wird von den Autoren auch die überzogene – weil verzehnfachte  – Zahl von 12.000 Kindern nach Samenspende (S. 24) genannt. Dieses Jonglieren mit Zahlen ist bestenfalls irritierend, im schlimmsten Fall könnte man dem Verlag und den Autoren unterstellen, dass sie die Zahlen zu ihrem (Verkaufs-)Zweck verwenden.

In der Einleitung entsteht auch der Eindruck, dass sich das Buch auf Kinder bezieht, die mit unterschiedlichen Methoden der Reproduktionsmedizin gezeugt wurden. Auch der Titel scheint hier die unterschiedlichen Methoden durcheinanderzuwerfen. Als „Spenderkinder“ bezeichnen sich in Deutschland derzeit manche Personen, die mit Hilfe einer Samenspende gezeugt werden. Ob Kinder nach Eizellspende oder Leihmutterschaft diesen Begriff ebenfalls für sich verwenden, oder gar Adoptivkinder sich darin wiederfinden, steht noch aus. Und viele nachstehende Kapitel beziehen sich überwiegend auf Personen nach Samenspende. Andere Formen der Reproduktionsmedizin werden darin eher medial-spektakulär gestreift oder in einzelne Kapitel eingestreut. Dies erweckt an manchen Stellen den Eindruck, dass damit vor allem eine mögliche Sensationsgier von Lesern befriedigt werden soll.

Nicht nachzuvollziehen ist, weshalb die Autoren vermuten, die Samenspende wird seit ca. 50 Jahren durchgeführt. Hier fehlt, wie an vielen weiteren Stellen, eine Quellenangabe. Die Autoren beziehen sich manchmal auf Deutschland, manchmal auf internationale Entwicklungen oder Begebenheiten, so dass bei vielen Zahlen und Situationen nicht immer sofort deutlich wird, ob In- oder Ausland gemeint ist; auch hierbei nicht. In der wissenschaftlichen Literatur wird als erste Samenspende, die publiziert wurde, der Fall Pancoast in den USA aus dem Jahr 1884 zitiert (Daniels, K. and E. Haimes (1998). Cambridge, Cambridge University Press); dies liegt deutlich länger zurück als 50 Jahre.  Ebenso fehlen Quellenangaben für die Aufklärungsrate von Kindern, die mit 10% angegeben wird. Mir selbst sind weder national noch international belastbare Studien über die Zahl der Menschen bekannt, die nach Samen- oder Eizellspende aufgeklärt wurden. Entgegen der Aussagen der Autoren wissen wir jedoch etwas über Kinder nach Eizell- und Embryonenspende sowie Leihmutterschaft. Es liegen zwar keine Studien vor, die in Deutschland durchgeführt wurden. Es liegt jedoch seit Anfang 2015 eine internationale Übersichtsarbeit von Susan Golombok vor, die die Studienlage in ihrem Buch „Modern Families“ zusammengefasst hat. Bei Golombok hätten die Autoren auch über Bindungsverhalten und Mutter-Kind-Interaktion, sogar Vater-Kind-Interaktion (ein Aspekt, der im Buch deutlich zu kurz kommt) nachlesen können, so dass sie sich auch bei dieser Frage nicht auf „die Berichte betroffener Frauen“ (S. 47) hätten verlassen müssen.

Im Buch werden einige Aussagen in Anmerkungen und im Literaturverzeichnis erläutert. Dies erweckt zunächst den Eindruck, wissenschaftlich seriös zu sein. Beim Nachschlagen der Quellen zeigt sich jedoch, dass sich die Autoren bei vielen dieser Stellen auf Zeitungsreportagen (z.B. S. 16, Bezug auf Interview in der Süddeutschen Zeitung und im Focus) oder auf Teile ihrer Interviews (S. 116 – Verweis auf Interview mit „Anja“) beziehen. Sicher war es einfacher, Zitate aus den Medien zu nutzen als wissenschaftlich zu recherchieren. Es wäre auf jeden Fall angemessen gewesen, wenn die Autoren zusätzlich zu den von ihnen durchgeführten Interviews mehr und aktuelle wissenschaftliche Literatur gelesen und berücksichtigt hätten.

Bestimmte Methoden wie die Leihmutterschaft werden als „dürftig“ untersucht dargestellt (S. 36) oder es wird pauschalisiert, z.B. dass „jene Menschen“ sich besonders intensiv für ihre Herkunft interessieren, „die ihre Zeugung nicht einem Sexualakt verdanken“ (S. 37). Letzteres bezieht sich vermutlich auf Kinder, die mittels Insemination oder künstlicher Befruchtung mit Gameten der Wunscheltern gezeugt wurden. Ob diese sich tatsächlich besonders für ihre Herkunftsfrage interessieren oder für die Frage, wie sie gezeugt wurden, ist bislang offen, da diese Gruppe von Kindern unter diesen Aspekten noch nicht untersucht wurde. In Deutschland liegen bislang zwei Studien vor: eine qualitative Untersuchung, die aufzeigt, dass aufgeklärte Kinder eher unspektakulär mit ihrer IVF-Zeugung umgehen (Siegel, S., R. Dittrich and J. Vollmann (2008). „Ethical opinions and personal attitudes of young adults conceived by in vitro fertilisation.“ J Med Ethics 34(4): 236-240) und eine quantitative Studie, die aufzeigt, dass nur wenige Kinder nach IVF oder ICSI über ihre Zeugung aufgeklärt wurden (Ludwig, A., A. Katalinic, J. Jendrysik, U. Thyen, A. Sutcliffe, K. Diedrich and M. Ludwig (2008). „Attitudes towards disclosure of conception mode in 899 pregnancies conceived after ICSI.“ Reprod Biomed Online 16 Suppl 1: 10-17).

Wissenschaftlich nicht nachvollziehbar ist die Art und Weise, wie die Autoren die Studien selektiert haben, auf die sie sich vor allem ab S. 58 beziehen. So schreiben sie, dass sich auf „der Seite des Vereins „Spenderkinder“ … ein sorgfältig recherchierter, umfassender Beitrag mit der Überschrift „Psychologisches““ findet, „in dem sich alle wissenschaftlichen Studien zum Thema Spenderkinder, Eltern und Spender finden. Unter Bezug auf diese systematische Übersicht soll auf einige relevanten Studien näher eingegangen werden.“ Sicherlich sind auf dieser Webseite eine große Anzahl von Studien gelistet, und sicherlich macht sich der Verein der Spenderkinder viel Mühe, diese Liste immer wieder zu aktualisieren. Eine solche Zusammenfassung von Studien, die möglicherweise interessengeleitet und mit großer Wahrscheinlichkeit unvollständig ist, jedoch als „systematische Übersicht“ zu bezeichnen, deutet nicht nur auf Naivität, sondern wissenschaftlich unsauberes Arbeiten hin. Auf S. 34 wird als Beleg für die mit ansteigendem Alter der Frau schwindende Schwangerschaftschancen Martin Spiewak, Wissenschaftsjournalist, zitiert. Noch nicht einmal für so relativ einfach belegbare Aussagen machten sich die Autoren die Mühe, Fachliteratur direkt zu lesen und zu benennen. Zwar räumen die Autoren vorsorglich (allerdings erst auf S. 203) ein, dass „Dieses Buch … keine wissenschaftliche Studie“ darstellt, eine Repräsentativität nicht gegeben ist und zahlreiche andere Mängel bestehen, sie haben sich aber auch hier nicht die Mühe gemacht, eigenständig eine Literaturrecherche und –auswertung durchzuführen. Und sie nutzen Begrifflichkeiten aus dem wissenschaftlichen Bereich. Diese unangemessenen Vermischungen hätten mit einer passenden Terminologie vermieden werden können.

Es ist erstaunlich – und hat mich wieder etwas mit dem Buch versöhnt – dass auch die Autoren als Quintessenz die frühe Aufklärung empfehlen, obgleich sie dieser aufgrund möglicher Stolpersteinen offenbar ambivalent gegenüberzustehen scheinen.

 

Reproduktionsmedizinisches Nichtwissen

Die Autoren beschreiben in der Einleitung eine künstliche Befruchtung (Eizelle wird mit Sperma des Mannes befruchtet), eine Samenspende wird jedoch überwiegend im Rahmen einer Insemination durchgeführt. Der Samen wird intrauterin eingeführt – und wird entgegen der Vermutung, die man auf S. 17 anstellen könnte, zuvor aufgetaut.

Ebenfalls auf S. 17 beschreiben sie, dass die Samenspende zunächst als Möglichkeit der „Samenbevorratung“ gedacht war, so dass Paare, bei denen der Mann aufgrund einer Krebserkrankung infertil wurde, später dennoch ein Kind bekommen konnte. Die Kryokonservierung wurde flächendeckend jedoch nach Bekanntwerden der HIV-Ansteckungsgefahr eingeführt. In den Jahrzehnten davor wurde überwiegend mit frischen Sperma inseminiert und die Koordination des Samenspenders und der Wunschmutter war entsprechend herausfordernd: Der Arzt musste den Spender einberufen, wenn er die Ovulation der Wunschmutter vermutete. Die Kryokonservierung ermöglichte nicht nur ein zweifaches Infektionsscreening, sondern erleichtert auch diese Logistik.

Auf S. 18 wird beschrieben, dass bei einer ICSI überwiegend Spendersamen verwendet wird. Dies ist schlichtweg falsch, denn das ICSI-Verfahren wird bei stark eingeschränkter männlicher Zeugungsfähigkeit durchgeführt. Der Vorteil einer Samenspende ist die hohe Qualität des Samens und die Möglichkeit einer deutlich weniger invasiven Behandlung.

Immer wieder findet man im Buch Passagen, die nicht eindeutig zu erkennen geben, ob sich die Autoren auf Kinder nach medizinischer Unterstützung mit eigenen oder fremden Gameten handelt (z.B. S. 41), und häufig beschreiben sie (potenzielle) Schwierigkeiten, die diese Kinder aufgrund ihrer Zeugung erleben. Bei vielen dieser Stellen wäre eine differenzierte Darstellung angemessen gewesen: Handelt es sich um eine Zeugung mit Gameten der Wunscheltern oder mit Gametenspende?

Irritiert hat mich im letzten Kapitel mit dem Titel „Spenderkinder bekommen das Wort“, dass auch eine Gynäkologin, zwei Adoptivkinder, ein Kind in einer Patchworkfamilie und der Inhaber der Drogeriekette Rossmann das Wort erhalten. Wo bleibt hier die Konzentration auf die Personen, denen das Buch mit dem Titel gewidmet ist und die das letzte Wort erhalten sollen?

 

Juristisches Nichtwissen

Auch hinsichtlich gesetzlicher Regelungen wäre eine fundierte Recherche sinnvoll gewesen. So wird auf S. 57 die österreichische Gesetzgebung beschrieben und angedeutet, dass alleinstehende Frauen in Österreich seit 2015 mit Samenspende behandelt werden. Dies ist nicht korrekt, der Gesetzgeber hat sich dezidiert gegen die Behandlung dieser Gruppe ausgesprochen (Barth, P. und Erlebach, M. Handbuch des neuen Fortpflanzungsmedizinrechts, Wien: Linde, 2015, S. 11). Auf S. 66 wird beschrieben, dass dieses Gesetz erst 2015 in Kraft trat, aber tatsächlich besteht das Gesetz bereits seit über 15 Jahren, im letzten Jahr wurden Aktualisierungen vorgenommen. Auch unterscheidet sich die Aufbewahrungsfrist der Dokumente in Österreich von der bei uns. In Deutschland müssen die Unterlagen, aus denen Samenspender und behandelte Frau hervorgehen, mindestens 30 Jahre lang aufbewahrt werden (§ 15 Abs. 2 TPG), danach können sie gelöscht oder anonymisiert werden. In Österreich hingegen müssen die Fachärzte bzw. Ordinationsstätten die Dokumente 30 Jahre lang bewahren, danach sind diese Unterlagen dem Landeshauptmann zu übermitteln, dieser hat sie auf Dauer aufzubewahren (§ 18 Abs. 2 FMedG).

 

Wertungen

Im kompletten Buch finden sich immer wieder Passagen, aufgrund derer vermutet werden kann, dass die Autoren der Reproduktionsmedizin im Allgemeinen und der Gametenspende im Besonderen skeptisch bis negativ gegenüberstehen. Für Paare/Personen, die hoffen, in diesem Buch einen Ratgeber zu finden, der sie darin unterstützt, die Perspektive so gezeugter Kinder zu verstehen, kommt dies einem Schlag ins Gesicht gleich: Einerlei, wie gut sie vorbereitet sind und wie sie sich um einen souveränen Umgang mit ihrer Familienbildung bemüht haben, es bleibt der Beigeschmack, dass diese Familienbildung so schwierig ist, dass man es eigentlich gar nicht richtig machen kann. Kapitelüberschriften wie „Kannbruchstellen“, „Königsweg mit Stolpersteinen“ oder „Anything goes“ verdeutlichen diese Vorwurfshaltung.

Eine Skepsis wird auch in den folgenden Aussagen deutlich: „mit der Reproduktionsmedizin geht … eine große kulturelle Errungenschaft, die Genealogie, verloren“ (S. 21). Zwar wird dies auf der folgenden Seite relativiert und vor allem die Bedeutung um das Wissen der Abstammung gut erläutert, aber der Satz bleibt als Expertenmeinung zunächst so stehen – und wird wieder mit einer Literaturstelle aus einer Zeitschrift, dieses Mal „DIE ZEIT“, belegt. Selbstverständlich haben auch Menschen nach Reproduktionsmedizin und nach Gametenspende eine Ahnenfolge, es sind jedoch – bei Gametenspende –  andere Personen als die sozialen Eltern, mit denen sie eine biologische Verwandtschaft teilen. Und eine Aussage wie auf S. 21 (Mit der Reproduktionsmedizin kommt „den Fantasien der Selbstermächtigung und Selbsterlösung aufs Verlockendste entgegen… . Sie optimiert den Menschen als Kunstprodukt“) lässt es schwer fallen, die Haltung der Autoren als neutral und nicht wertend wahrzunehmen.

 

Die in Teil II dargestellten Lebensskizzen sind durchweg sehr empathisch und kindzentriert geschrieben. Dieser Teil ist tatsächlich lesenswert, vor allem für diejenigen, die sich mit den Stimmen von Erwachsenen nach Samenspende bislang kaum auseinandergesetzt haben. Hier wird deutlich, wie schwierig es ist, die Ohnmacht auszuhalten, wenn der Spender anonym bleibt, die Frustration zu kanalisieren, wenn Ärzte und Gesetzgeber keine gute Vorsorge getroffen haben, und den Vertrauensverlust zu überleben, wenn man durch Zufälle, von Dritten, durch eigene Detektivarbeit oder erst im späten Alter durch die Eltern von der Zeugung durch Samenspende erfährt. Aber auch hier wird Verhalten von den Autoren entgegen ihrer Ankündigung ( z.B. S. 101, 107) stark gedeutet und abgewertet: Kinder werden z.B. als „Objekt“ ihrer Mutter beschrieben (S. 109), womit diese Mutter demonstrieren wolle, „dass sie zum Muttersein befähigt ist“ (S. 109). Mehrfach werden familiäre Krisensituationen geschildert und die Behauptung aufgestellt, dass die anderen „biologischen Bedingungen“ diese noch gefördert (S. 122) oder das Wissen um die Herkunft trennende Tendenzen gefördert haben könnte (S. 123).

Die Männer und Väter werden kaum erwähnt und im Kapitel über „Josefs-Väter“ als blass und passiv im Hintergrund agierend dargestellt. Sodann werden sie als über ihre Zeugungsunfähigkeit unfähig zu sprechen geschildert, sind diejenigen, die „gute Miene zu einem Spiel“ machen würden und passive Spielbälle in der Hand ihrer Partnerinnen, die die „treibende Kraft für den Kinderwunsch“ (S. 129) waren. Dass Männer durchaus auch einen Kinderwunsch hegen, dass sie einen aktiven Part in der Behandlung und in der Auseinandersetzung spielen können und sie ihren Gefühlen sogar Gehör verschaffen oder einfach doch „ganze Kerle“ sind (siehe z.B. Thorn, P. (2010). Männliche Unfruchtbarkeit und Kinderwunsch. Erfahrungen, Lebensgestaltung, Beratung. Stuttgart, Kohlhammer Verlag; Wischmann, T. Thorn, P. (2014). „Der Mann in der Kinderwunschbehandlung (unter besonderer Berücksichtigung  der donogenen Insemination)“ J Reproduktionsmed Endokrinol 11(3): 134-14), bleibt den Autoren leider verschlossen, da sie sich auch bei diesem Thema nicht mit der Fachliteratur auseinandergesetzt haben.

Im Kapitel „Frühe Aufklärung“ plädieren die Autoren für eben diesen „pädagogischen Königsweg“ (S. 176), geben jedoch zu bedenken, dass dieser mit „Stolpersteinen“ (S. 176) versehen sein kann. In einem späteren Kapitel scheinen sie jedoch ihre Empfehlung wieder einzuschränken, denn sie schreiben, dass eine sehr frühe Aufklärung „eine andere Variante der Wahrnehmungsverzerrung hervorbringen“ (S. 219), so dass bei Lesern, die dies beherzigen, bestenfalls Ambivalenz, im schlechtesten Falle jedoch hohe Verunsicherung entstehen kann.

Die aktuelle Studienlage zeigt jedoch auf, dass die frühe Aufklärung im Kindergartenalter der richtige Weg zu sein scheint: eine Aufklärung im Kindergartenaltern, damit das Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Eltern nicht durch ein Familiengeheimnis belastet wird und kein beim Kind durch späte Aufklärung ausgelöster Identitätsbruch eintreten kann. Und ebenso wie Adoptiveltern ist es für Eltern nach Samenspende hilfreich, sich lange vor dieser ersten Aufklärung, am besten vor der medizinischen Behandlung, mit dem Wann und Wie der Aufklärung auseinanderzusetzen, für diese Familienform eine Sprache zu entwickeln und somit Selbstsicherheit zu gewinnen. Hierfür gibt es seit vielen Jahren Aufklärungsbücher für Kinder (Thorn, P. (2006). Die Geschichte unserer Familie. Ein Buch für Familien, die sich mit Hilfe der Spendersamenbehandlung gebildet haben. Mörfelden: FamART)  und mittlerweile auch Ratgeberliteratur für Eltern (Ratgeber-Reihe „Offen gesprochen“, DI-Netz 2013 und 2016, Mörfelden: FamART) sowie Literatur für Fachkräfte (Thorn, P. (2014). Psychosoziale Kinderwunschberatung im Rahmen der Gametenspende – Fortbildungsmanual. Mörfelden: FamART).

Im Kapitel über „Samenspender“ werden viele Aussagen getroffen, die in dieser Pauschalität nicht haltbar sind. So gehen die Autoren davon aus, dass „die allermeisten“ Samenspender „gesichtslos“ (S. 194) bleiben wollen. Etwas bösartig wird ihnen unterstellt, dass sie keinerlei Interesse am Kind haben, und dies wird mit der Aussage eines Spenders während einer Hörfunksendung belegt. In der Realität wird es sicherlich solche Spender geben. Es gibt jedoch auch Spender, sie durchaus gegenüber einem Kontakt zum Kind und dessen Familie nicht abgeneigt sind, die sich ihrer Verantwortung als Erzeuger bewusst sind und die dem Kind als Ansprechperson zur Verfügung stehen. Fakt ist allerdings, dass bis vor rund 10 Jahren die meisten Samenbanken die Spender informierten, dass diese keinerlei Information über den Ausgang ihrer Spende erhalten und dass selbstverständlich strikte Anonymität zwischen Spender und Kind herrscht. Daher setzten sich Spender mit der Frage nach der Bedeutung der so gezeugten Kinder nicht auseinander. Dass Spender jedoch auch über die mit ihrem Samen gezeugten Kinder nachdenken und für deren Bedürfnisse offen sind, zeigt das aktuelle Beispiel in Victoria/Australien: Dort wurde vor kurzem die Spenderanonymität retrospektiv aufgehoben, d.h. alle Personen nach Samenspende, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Zeugung, können die Identität des Spenders erfahren. Dies wurde nicht nur von Spenderkindern und ihren Eltern, sondern auch von Samenspendern begrüßt (siehe z.B. https://www.facebook.com/JillHennessyMLA/videos/1037650402947797/?fref=nf) . Dies beschreiben auch die Autoren, allerdings erst einige Seiten später.

Im Anhang wird unter „Adressen“ beschrieben, dass Beratungseinrichtungen keine unabhängigen Anlaufstellen sind: „die Homepages der Verbände und Gesellschaften geben Querverweise zu den angeschlossenen Arbeitskreisen … . Querverweise im Netz lassen erkennen, inwiefern Beratungseinrichtungen organisatorisch und inhaltlich unabhängig arbeiten, oder ob es mögliche Nähen zu „Kinderwunschzentren“ gibt.“ (S. 257). Dies ist schlichtweg eine bösartige Unterstellung. Psychosoziale Fachkräfte sind durchaus in der Lage, multidisziplinäre Kooperationen einzugehen, ohne sich in Abhängigkeiten zu begeben. Bei unerfülltem Kinderwunsch ist eine Kooperation zwischen medizinischen und psychosozialen Fachkräften darüber hinaus nicht nur wünschenswert, sondern dringend erforderlich, damit Wunscheltern möglichst frühzeitig von Beratungsmöglichkeiten erfahren.

 

Fazit

Das Buch bezieht sich vor allem auf schwierige Familienkonstellationen, bei denen Kinder spät oder durch Dritte aufgeklärt wurden. Es ist nicht nur einseitig und pauschalisierend, sondern vor allem nicht wissenschaftlich recherchiert. Einen ausgewogenen und nicht wertenden Blick auf die Familienbildung mit Samenspende bietet dieses Werk leider nicht.

Die Samenspende ist kein einfacher Weg der Familiengründung. Dies zeigt das Buch auf, und dies zeigt auch meine klinische Erfahrung. Und sicherlich gibt es in Deutschland aktuell Missstände, die ihren Beitrag dazu leisten, das Tabu und Stigma bestehen zu lassen. Dieser größere Rahmen wird jedoch in diesem Buch kaum angesprochen. Um Eltern und Spender dazu zu motivieren, offen und selbstbewusst mit der Samenspende umzugehen, brauchen diese die entsprechende psychosoziale Unterstützung und Vorbereitung auf diese Familienbildung. Sie benötigen Fachkräfte, die eine solche psychosoziale Aufklärung, Information und Beratung qualifiziert durchführen, sie benötigen Reproduktionsmediziner, die auf ein solches Angebot hinweisen und dessen Mehrwert erklären, sie brauchen Peer-Support, damit sie mit ihrer Erfahrung nicht allein sind und diese normalisieren können, und sie benötigen einen eindeutigen rechtlichen Rahmen. Hierzu gehört, dass Samenspender rechtlich abgesichert werden und nicht Gefahr laufen, gegen ihren Willen eine juristische Vaterschaft übernehmen zu müssen. Und es gehört dazu, dass Personen, die mit Hilfe einer Spende gezeugt wurden, ein eindeutiges und zeitlich nicht befristetes Auskunftsrecht eingeräumt bekommen. Nur unter diesen Bedingungen wird sich die gesellschaftliche Haltung langfristig ändern, die Samenspende wird als legitime Form der Familienbildung anerkannt und Familien und Spender werden offen damit umgehen – und dies vor allem im Sinne der so gezeugten Kinder, die über ihre Herkunft informiert sind, nicht mit den Belastungen eines Familiengeheimnisses leben müssen und die Identität des Spenders und auf Wunsch von Halbgeschwistern erfahren können.

Petra Thorn

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